Noch ein paar Tage mehr in Huser Gard hätten sicherlich gut getan:
Ruhe, Regelmäßigkeit, Rhythmus … Rekonvaleszenz.
Wäre da nicht das nagende Gefühl gewesen, etwas zu verpassen.
Der Kontakt zu diesem Gastgeber bestand schon länger.
Im Hinblick auf Christofs Situation, hatte er geschrieben, er sei auch als „convalescent“ willkommen.
„We probably can have a good time together!“
Wenn sich das nicht entspannt und nach einer guten Perspektive anhörte!
So machen wir uns am 11. Dezember auf den Weg nach Schweden.
300 km gen Osten, Richtung Örebro … zu STURE:
69 Jahre alt, alleinstehend, ein passionierter Backpacker und Hitchhiker,
der 96 Länder (!) bereist hat, aber zur Zeit sesshaft ist und offensichtlich ein bisschen Gesellschaft und Hilfe brauchen kann.
„My house is always open and so is my heart“, heißt es in seinem Anschreiben. Wir sind zuversichtlich und freuen uns!
Er habe eine Überraschung für uns, sagt Sture.
Nach fünf Stunden Fahrt kaum der Minna entstiegen, sitzen wir zwei Minuten nach unserer Ankunft schon in seinem alten Saab,
unterwegs ins nächste Dorf.
Santa Lucia, das dürften wir auf keinen Fall verpassen!
Ein alter schwedischer Brauch, einer von vielen in dieser dunklen Winterzeit.
In Östansjö hat der Reitverein am heutigen Sonntagabend ein Lichterfest auf die Beine gestellt.
Hufgeklapper auf der Dorfstraße. Große stattliche Pferde, eine kleiner Tross Reiter in weißen Gewändern, Kerzenkränze auf dem Kopf.
Singend huldigen sie der Heiligen Lucia und ziehen durch’s Dorf. Wir begleiten sie ein Stück; Sture singt, wir summen leise vor uns hin.
Eine schöne eingängige Melodie, die uns irgendwie bekannt vorkommt.
Überall brennen Lichter in den Fenstern der alten Holzhäuser - überall funkelt, glitzert und strahlt es.
Wenn im Winter die Sonne spät auf und früh wieder untergeht, holen sich die Schweden das ins Haus, was ihnen am meisten fehlt. Licht!
Santa Lucia, das dürften wir auf keinen Fall verpassen - die Zweite.
Das eigentliche Santa Lucia fällt auf den13. Dezember.
An diesem Tag klingelt der Wecker schon sehr früh.
Es ist noch stockfinster und der Blick aus dem Fenster lässt eisige Kälte erahnen.
Aber in Stures kleinem Häuschen ist’s warm.
Die Sterne und Lichtertreppen in den Fenstern verbreiten ein angenehmes Licht.
Ein würziger Duft zieht nach oben.
Sture hat unten in der Küche schon Glögg gekocht.
dazu Rosinen, Mandeln, Pepperkaker gerichtet,
im Kamin in der Stube ein Feuer entfacht und …
den Fernseher angeschaltet.
Eine Stunde lang werden wir nun mit halb (oder ganz?) Schweden vor der Mattscheibe sitzen, die diesjährige Santa Lucia Zeremonie verfolgen,
Gesang und Instrumentalstücke hören, Bilder von jungen Menschen in weißen Gewändern sehen - Kerzenkränze auf dem Kopf -
dazu Glögg trinken und Pepparkaker knabbern…
Schön, dass Sture darauf bestanden hat, dass wir früh aufstehen.
Sture wohnt in einem kleinen roten Bullerbühäuschen mit einem Garten und Lattenzaun drumherum.
Ein Fahrrad lehnt an der Außenwand und am Baum hängen noch die letzten Äpfel vom Herbst.
Von dieser Art Häuschen gibt es viele hier in Närke.
Närke Stugan heißen sie, benannt nach der alten historischen Provinz.
Alle gleich gebaut. Alle winzig klein (gerade mal so breit wie ein Zimmer).
Alle aus dem 19. Jahrhundert. Alle sehr gemütlich, wenn auch mit wenig Komfort.
Aber wenn man auf dem Land leben will, sei das so, sagt Sture.
Sonst müsse man eben in die Stadt ziehen. Dann sähe man halt die Sterne nicht, wenn man nachts vors Haus ginge.
In Stures Närke Stugan gibt es jedenfalls viel zu tun. Drinnen wie draußen.
Er zeigt uns sein - wie er sagt - Smörgåsbord an Aufgaben.
Mindestens 25 Tasks! Und wie beim Büffet hätten wir freie Wahl.
Warum wir uns zunächst für die Veranda entschieden haben, weiß ich nicht. Bei - 12 Grad passen wir Bretter für den Boden an.
Stehen viel herum, bewegen uns wenig.
Tüfteln und überlegen, schauen, was zusammenpasst - wenn überhaupt etwas zusammenpasst. Alles ist alt und schief.
Messen, sägen, schrauben (so gut das mit den fetten Winterhandschuhen geht), fluchen und friiiiieeeren!
Eigentlich habe ich es mir bis dahin verboten, während der Arbeit ins Haus zu gehen, um mich aufzuwärmen.
Aber diesmal kann ich nicht anders, bin froh um jede Gelegenheit, die sich bietet, kurz drinnen verschwinden zu können:
den Akku aus dem Ladegerät zu holen, nach einem Werkzeug zu suchen, auf die Toilette zu gehen …
Ein paar Minuten reichen, um wenigstens die Hände wieder warm zu bekommen.
Aber frustriert bin ich schon ein bisschen:Das sind jetzt nur - 12 Grad, erst der Anfang des Winters und wir sind noch im Süden!
Was mich ein bisschen tröstet:
Christof scheint auch nicht gerade zu schwitzen ! :-)
Als es nach ein paar Tagen dann nur noch - 6 Grad sind, fühlt sich das richtig warm an.
Aber jetzt sind wir draußen fertig und im Haus warten auch noch schiefe Wände auf uns.
Tüfteln und überlegen, schauen, was zusammen passt, messen, sägen, schrauben.…
Wir verabschieden uns schließlich von komplizierter deutscher Akkuratesse und folgen Stures Vorgabe: „Make it as nice as possible!“.
Im Übrigen, sagt er, seien WIR ja jetzt „der Boss“ in seinem Haus, müssten entscheiden und hätten das Sagen. Er sei ja nun in der Minderheit.
Dann fügt er noch hinzu: „But it’s good, that you are here. That gives me also a kick in the ass!“
Die Abende sind lang, wenn sich bereits um drei Uhr das Tageslicht verabschiedet.
Zeit, nach dem Essen in der gemütlichen Küche beisammen zu sitzen, zu reden, sich auszutauschen.
Sture mag intensive Gespräche, macht sich viele Gedanken über die Welt, über seine ökologische Verantwortung,
über seine Krankheit und wie viel Zukunft ihm noch bleibt.
Gerne würde er wieder auf Reisen gehen, am liebsten nach Südamerika.
Aber wegen seiner Medikamente käme, wenn überhaupt, dann Europa in Frage. Vielleicht Portugal.
Wir hören von seiner Tochter, mit der er sehr verbunden ist und die - völlig ungelernt - einen seiner Schuppen als Sommerhaus ausbaut.
(Wir haben ihn gesehen - Respekt!)
Er erzählt von Dingen, die ihm Spaß machen - kulturelle Veranstaltungen, vor allem Musik. Seit kurzem nimmt er Gesangsunterricht in Örebro.
Und von der Arbeit mit seinen Schülern - Immigranten, die er dreimal in der Woche unterrichtet: angehende Busfahrer, Schreiner, Drucker…
Er habe so nette Schüler! Und es sei gut, dass er zwischendurch rauskäme.
Wenn wir über Schweden sprechen, wehrt er sich strickt gegen typisch schwedisch, typisch deutsch.
Seine diversen Reisen um die Welt haben ihn etwas ganz anderes gelehrt: Jeder ist ein Individuum!
Am Mittwoch sieht das Abendprogramm anders aus.
Da gibt’s nichts Selbstgekochtes und keineGespräche am Abendbrottisch.
Da gibt es Pizza vom Syrer aus Östansjö.
Da kommt nämlich Fußball! Argentinien gegen Kroatien!
Da sitze ich alleine in der Küche vor meiner Linolplatte und die Männer vor dem Fernseher.
Zwei passionierte Fernsehgucker auf der Couch! Herrlich!
Sture ist ein begeisterter Fußballfan, ist prinzipiell immer für die Underdogs.
An ihrer Unterhaltung höre ich, dass sie sich da sehr einig sind, auch wenn Sture an diesem Tag für Kroatien, Christof jedoch für Argentinien ist.
Wegen Fausto und Albano, versteht sich.
Ein wesentlicher Bestandteil in Stures Leben sind seine Freunde.
Mit ihnen trifft er sich regelmäßig; mal bei dem einen, mal bei dem anderen.
Am Tag vor unserer Abreise ist er an der Reihe. Neun Leute sind geladen.
Sture ist erleichtert, wir haben angeboten zu kochen.
Er selbst wirkt ziemlich aufgeregt. Schon am Vorabend holt er das gute Geschirr aus der Vitrine und richtet den Tisch.
Er will es seinen Gästen schön machen, auch wenn er meint, dass alle ehemalige Hippies seien, die zur Not auch auf dem Boden sitzen könnten.
Das brauchen sie nicht.
Am schön gedeckten Tisch in der guten Stube werden alle ihren Platz finden.
Um 2 Uhr kommen die Gäste, fast alle pünktlich.
Gegen 7 Uhr verlassen die letzten das Haus.
Dazwischen liegt ein wunderbarer gemütlicher und geselliger Nachmittag: Begrüßung mit Glögg, eine leckeres Mittagessen und dann das eigentliche Highlight: das gemeinsame Singen von Weihnachtsliedern, Piu spielt dazu Klavier und dann noch Akkordeon. So etwas haben wir noch nie erlebt!
Nachdem alle gegangen und alles aufgeräumt ist, wirkt Sture erschöpft, aber zufrieden. Vielleicht ist er auch froh, nun wieder seine Ruhe zu haben.
Es wäre kein Zufall, sagte er neulich, dass er Single sei und alleine lebe.
Er sei zwar gerne mit Menschen zusammen, aber mindestens genauso gerne wäre er auch mit sich alleine … frei und unabhängig.
Eine Woche wollte er, dass wir bleiben. Länger nicht.
Auch wegen seiner Fatigue.
Das verstehen wir.
Die Zeit mit Sture war kurz, intensiv und sehr schön.
„My house is always open and so is my heart.“
Genauso haben wir es empfunden. Genauso haben wir ihn erlebt.
Mittlerweile sind wir schon wieder in Norwegen.
Bevor wir die Grenze überquerten, waren wir noch zwei Stunden im ICA-Maxi Stormarknad zum Weihnachtsshopping!
Alles halb so teuer wie jenseits der Grenze. Das haben wir natürlich „mitgenommen“.
In vier Tagen kommen Evi und ihr Freund Tim!
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Bernhard Moser (Montag, 26 Dezember 2022 10:22)
Liebe Frau Gerlitz, lieber Herr Gerlitz,
auf diesem Weg am Stephanstag gesegnete Weihnachten und ein gutes Neues Jahr. So wie Sie es schreiben, habe ich immer wieder Spaß am Stöbern auf Nordwegs. Die Webseiten sind sehr ästhetisch und liebevoll gestaltet und Sie lassen uns teilhaben an Ihrem Leben, lassen uns regelrecht mitfühlen.
@Herr Gerlitz: Willkommen im Club. Bilder und Berichte über Ihre Bandscheibengeschichte lösen bei mir als selbst Betroffenem - ich war damals im gleichen Alter wie Sie - im ehrlichen Wortsinn MIT-LEID aus. Gerne können wir später mal, so Sie mögen, Erfahrungen austauschen.
@Frau Gerlitz: Ein herzliches Dankeschön für Ihre Karte für mein Ruhestandsalbum. Ich habe mich sehr über das Gestaltete und Geschriebene gefreut.
Großer Respekt für Sie beide, wie Sie die Situationen annehmen und meistern. Ich denke, dass der Mut, den Sie für dieses Abenteuer aufbringen, sich täglich lohnt. Alles Gute für die weitere Reise!